Jenseits von Gut und Böse

Michael
Schmidt-Salomon

Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind

Pendo
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Bestandsnummer: 
1109

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In seinem Buch »Jenseits von Gut und Böse - Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind« liefert Michael Schmidt-Salomon (im folgenden MSS) gute Gründe gegen die noch immer vorherrschende Gut / Böse-Dichotomie in der Ethik und insbesondere gegen das Konzept der sog. »Willensfreiheit«. Dabei bedient er sich (in positivem Sinne und stets mit Quellenangabe) v.a. der Argumente des Philosophen Arthur Schopenhauer, eber bezieht auch aktuelle Erkenntnisse von Hirnforschern wie Richard Dawkins, Sam Harris und Gerhard Roth mit ein. So will er veraltete Moralvorstellungen zerstören, aber damit, als positiven Gewinn, eine "neue Leichtigkeit des Seins" (S. 205) ermöglichen. Denn gelänge das Projekt, dann könne man in entspannterer Beziehung sowohl zu sich selbst, als auch zu anderen treten. So weit ist das ganz folgerichtig. Moralische Vorwürfe sind verfehlt und schlichtweg ungerecht, wenn es stimmt, was schon Schopenhauer schrieb: "»Du kannst tun, was du willst: aber du kannst, in jedem gegebenen Augenblick deines Lebens, nur ein Bestimmtes wollen und schlechterdings nichts anderes als dieses Eine«." (zit. auf S.121) Willensfreiheit wäre dann nichts anderes als eine Chimäre, und wenn es zu einem gegebenen Zeitpunkt gar nicht in meiner Hand lag, gleichsam »zu wollen, was ich will«, so kann mir die eine Tat, welche ich dann willensgemäß ausgeführt habe auch nicht angerechnet und ein Vorwurf daraus gestrickt werden. Freiheit würde dann 'nur' noch als »Handlungsfreiheit« begriffen, siehe das Kapitel „»Tun können, was man will!« - Die Freiheit, die wir meinen“, S. 116-124. Freiheit in diesem Sinne bedeutet die Abwesenheit von (inneren und äußeren) Zwängen, so dass nichts im Wege steht, einen einmal gefassten Beschluss (meinen »Willen«) handlungswirksam zu machen. In der Tat könnte diese Einsicht für eine Entspannung in unserem gegenseitigen Umgang sorgen. Jedoch rudert MSS dann doch zurück, da er, sozusagen, mit dem Bade »Willensfreiheit« nicht auch noch das Kind »Verantwortung« ausschütten will. Eine ehrenhafte Absicht, keine Frage, aber hier gerät er i.m.A. leider in einen klaren Selbstwiderspruch. So behauptet er neben jener rein negativen Freiheit als Abwesenheit von Zwängen auch eine positive in folgendem Sinne: "Erstens: Ich muss wissen, welche verschiedenen Handlungsoptionen in einer konkreten Situation überhaupt existieren. [...] Zweitens: Ich muss in der Lage sein, die jeweiligen Folgen der verschiedenen Handlungsalternativen einzuschätzen, um die für mich sinnvollste Alterative zu erkennen. [...] Drittens: Ich muss über die Mittel verfügen, um die präferierte Handlungsoption auch in die Praxis umsetzen zu können." (S. 165 f.) Der Knackpunkt liegt hier im dritten Punkt, bei der „präferierten Handlungsoption“. Denn um für meine Präferenz verantwortlich zu sein, müsste ich unter den erkannten und bewerteten Optionen (erster und zweiter Punkt) frei wählen können. Also, anders gesagt, ich müsste eben doch »wollen können, was ich will«! Genau dies aber hatte MSS weiter oben scharf bestritten. Trotz seiner unbestreitbaren Leistung, viele Argumente und Fakten zusammengetragen zu haben (v.a. sein Kapitel über den Fatalismus des SS-Mannes Adolf Eichmann, zentral mitverantwortlich für die Ermordung von ca. 6 Mio. Menschen, S. 158-161, ist hochinteressant, da er Unterlagen verwenden konnte, die selbst Hannah Arendt für ihr berühmtes Werk »Eichmann in Jerusalem« noch nicht vorlagen), hat der Autor es leider nicht geschafft, mich von einem positiven Freiheitsbegriff zu überzeugen. Auch das »Eigennutzprinzip«, das er auf S. 175 (als Spezifikum für Lebewesen) ins Feld führt, greift hier i.m.A. nicht. Eigennützige Systeme (wie die Hauskatze, die man „durch das Geäst eines großen Baumes“ aus dem Fenster im dritten Stock wirft („bitte nur vorstellen, nicht in die Praxis umsetzen!“, so seine durchaus sympathische Warnung), sind eben nicht „per se unberechenbar“. Jedenfalls sehe ich keinen zwingenden Grund für diese Behauptung. Friedrich Nietzsche (von dem MSS ja den Titel seines Buches entlehnt), war hier wesentlich konsequenter: In »Menschliches, Allzumenschliches, Erster Band«, Abschnitt 39, »Die Fabel von der intelligibelen Freiheit«, schreibt er, „dass der Mensch für Nichts verantwortlich zu machen ist, weder für sein Wesen, noch seine Motive, noch seine Handlungen, noch seine Wirkungen. […] Also: weil der Mensch sich für frei hält, nicht aber weil er frei ist, empfindet er Reue und Gewissensbisse. […] Niemand ist für seine Thaten verantwortlich, niemand für sein Wesen; richten ist soviel als ungerecht sein.“ Dies bleibt selbst dann richtig, wenn man, wie MSS, dem Zufall seinen Platz in der Welt zugesteht, denn, ja es stimmt: „Der Zufall steht notwendigerweise im Widerspruch zur Kategorie des Sinns, jedoch nicht zwangsläufig […] zur Kategorie der Notwendigkeit.“ (S. 170) Jedoch behauptet er weiter: „Der Mensch ist keine Maschine“ (S. 169). Dem halte ich entgegen: Entspannter leben (in seinem Sinne!) könnten wir nur dann, wenn es uns eben doch gelänge, uns endlich als Maschinen zu begreifen. Wir sollten dies nicht mehr als Kränkung empfinden. Denn für das Wunder, selbst Empfindungen und Gefühle zu haben, also die Existenz - als solche - zu erleben, brauchen wir keine »Freiheit«. Und randomisierte Algorithmen gibt es auch in der IT-Welt. Schließlich: Etwa zur Begründung eines Strafrechtssystems würde doch als einziger »Strafzweck« die ABSCHRECKUNG völlig genügen, und – bei allem Respekt und Verständnis für die Geschädigten! - die VERGELTUNG könnte man endlich der Psychologie überantworten, wo sie i.m.A. auch hingehört. Fazit: Ein tolles Buch, das viel Stoff zum Nachdenken liefert. Was jedoch das Prinzip »Verantwortung« angeht, so sehe ich auch nach der Lektüre nicht, wie man es noch retten könnte, wenn man die »Willensfreiheit« einmal aufgegeben hat.

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